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Eine Ära geht zu Ende

 

Samstag, den 03.06.2023 19:46

Alter: 1 Jahr(e)

Von: Karin Reber


Gespräch zur Situation der Förderschulen und Förderzentren in Bayern - Geht das bayerische Bildungssystem den Fluss runter?


 

Am 10.5. durfte die dgs Landesgruppe Bayern, vertreten durch die 2. Vorsitzende Dr. Karin Reber, auf Einladung der bayerischen SPD-Landtagsfraktion hin an einem Gespräch zum Thema „Situation der Förderschulen und Förderzentren in Bayern“ im bayerischen Landtag teilnehmen.

 

 

Ausgerichtet war der Abend von der SPD, MdL Dr. Simone Strohmayr und MdL Margit Wild, die beide im Bildungsausschuss sind und die thematische und organisatorische Rahmung übernommen hatten. Die Einladung stieß auf unglaublich hohe Resonanz: Ca. 60 Schulleitungen, Eltern, Betroffene, Verbände, Geschäftsführungen von Privatschulen, Sozialpädagogen, weitere Berufsgruppen… waren gekommen. Der Raum war übervoll mit Gästen aus ganz Bayern.
Kurz zusammengefasst muss man sagen, dass ein schockierendes Bild des aktuellen bayerischen Bildungssystems entstand, besonders durch die Darstellungen der Eltern. Deren Berichte waren teilweise zutiefst existentiell, denn viele schilderten größte, oft erfolglose Schwierigkeiten, einen geeigneten Schulplatz für ihre Kinder zu finden. Und durch die Darstellungen aus ganz Bayern wurde klar, dass es sich nicht um punktuelle Probleme handelt.
 
Angesprochene Themen im Überblick:

  • Fehlende Schulen und Plätze im gE-Bereich (60 Bewerbungen auf 10 Plätze), keine Tagesheimplätze
  • Für Kinder mit Autismus gibt es gar keine Chance auf einen Schulplatz
  • Problem Pflegekräfte: schlechter bezahlt als Schulbegleitungen, die weniger Verantwortung haben und nur für ein Kind zuständig sind, Zeit pro Kind ist um 18 Minuten pro Kind gesunken, obwohl die Kinder schwieriger werden und der Pflegebedarf höher, immer mehr Pflegekräfte arbeiten daher als Schulbegleitungen, Pflegepersonalbedarf
  • Inklusion gelingt im FSP Lernen nicht wie angedacht
  • Eltern beklagen Ochsentouren bei der Bewerbung um Schulplatz, erfolglos, müssen Kinder dann selber betreuen und Jobs aufgeben (jetzt arbeitslos)
  • Stadt München wirbt Heilpädagogen mit höheren Gehältern in die Kitas ab, die dann an Förderzentren und Förderschulen fehlen
  • Abzug von Personal durch die Regierung: Förderschwerpunkt Sehen
  • Abzug von Personal durch die Regierung bzgl. des 12-er-Teilers nach Schulbeginn wurde sehr kritisiert
  • Schüler:innen der Förderzentren haben keine Lobby durch Eltern, da oft aus bildungsfernem Milieu
  • Elternbeiräte der Förderschulen erreichen Eltern ebenfalls nicht
  • Fehlende Teilzeit führt zu Stundenverlusten, Schuss ging nach hinten los, Problem v.a. bei älteren Lehrkräften, Anstieg der Dienstunfähigkeits-Meldungen
  • Bürokratie für Eltern: Warum jährliche Anträge? Jugendämter kommen nicht mit Bescheiden hinterher, Anträge müssen schon wieder gestellt werden bevor überhaupt die Genehmigung des Vorjahres da ist, Anträge viel zu komplex für Elternschaft – warum ständig zu begründen, ist am Gymnasium doch auch nicht nötig?
  • Schwierige Zusammenarbeit mit dem Sozialbürgerhaus, extreme esE-Schüler:innen auch an Förderzentren (vgl. Zahlen des Vereins Lernen fördern e.V.), keine Stütz- und Förderklassen für schwerstauffällige Jugendliche, die digital im Distanzunterricht beschult werden müssen
  • Aktuelle Klassenteiler unrealistisch – Personal wandert bei zu komplexen Klassen ab und ist nicht haltbar, Klassen müssen führbar zusammengestellt werden
  • Sehr problematische Anerkennung ausländischer Fachkräfte, Qualifikationen werden nicht anerkannt, Deutschkurs vor Anstellung in München finanziell unrealistisch, danach trotzdem Arbeit im Niedriglohnsektor, große Ressource an ausgebildeten Fachkräften wird verschwendet!
  • Bezeichnend die Zusammenfassung einer Mutter: „Teilhabe - was ist das? Es gibt keine Teilhabe! Sie wird von den Eltern erkämpft!“

 

Die gleich neben dem Landtag fließende Isar leidet am Abend des Gespräch mit: Normalerweise ein blau-grüner, sauberer Gebirgsfluss mit malerischem Verlauf und bezaubernder Farbe, an diesem Abend bezeichnenderweise ein reißendes, braunes, schäumendes Etwas. Sie reißt alles mit, Bäume, Stämme, Ästchen, die kleinen Isarkiesel mahlen alles kaputt.

 

 

Ein bisschen zeichnet der Fluss das Bild des aktuellen Schulsystems, das im Landtag entstanden ist: Geht hier ein Bildungssystem den Fluss runter? – Denn Bach kann man wohl nicht mehr sagen...

 

Der Förderschwerpunkt Sprache war aufgrund der bereits oben genannten, massiven und tiefgreifenden Problemstellungen im gesamten Förderschulwesen nicht einmal am Rande Thema des Gesprächs im Landtag, was sehr bedauerlich ist, denn gerade die aktuellen Studienergebnisse an Förderzentren der Universität München, Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie, Prof. Dr. Andreas Mayer zeigen, dass aktuell und gerade nach Corona der Sprachförderbedarf bei fast allen Förderschüler:innen enorm ist (Mayer 2021, 2021a, 2023):

  • 92,8 % der untersuchten Kinder an sonderpädagogischen Förderzentren zeigten Therapiebedarf im Bereich Sprachverständnis, sprich Leistungen, die gemessen mit einem normierten Sprachtestverfahren (TROG-D) mindestens eine Standardabweichung unter der Norm liegen.
  • Beim Wortschatz waren es expressiv 93,3% und rezeptiv 90,8% der Kinder (WWT).
  • Im Bereich Grammatik (ESGRAF) hatten 81,7% therapiebedürftige Leistungen im Bereich der Genera, 74,5% im Akkusativ und 61% der Kinder sogar in der Verbzweitstellung: eine sprachliche Fähigkeit, die im normalen Schriftspracherwerb in der Regel von Kindern mit ca. 3 Jahren erworben wird (Clahsen 1988).

Auch an Förderzentren emotional-soziale Entwicklung liegen die Anteile der Schüler:innen mit Auffälligkeiten ín einzelnen Sprachebenen weit höher als erwartet (Mayer 2023; Mayer eingereicht).


Leider werden diese Kinder aktuell oft vergessen, sowohl auf bildungspolitischer Ebene als auch oft in der schulischen Praxis, wie Mayer in seiner Studienbeschreibung resumiert: „So berichten Sonderpädagoginnen aus der schulischen Praxis, dass es insbesondere die sozio-emotionalen Probleme sowie die Lernschwierigkeiten der Schüler / innen sind, die eine besondere Herausforderung in der täglichen Arbeit darstellen. Die sprachlichen Schwierigkeiten werden dagegen nicht ausreichend differenziert diagnostiziert oder im Vergleich mit anderen Beeinträchtigungen als nachrangig interpretiert.“ (2021, 207)


In einer anderen Untersuchung weisen Tiede/Braun (2017) auf ähnlich erschreckend hohe Auffälligkeiten bei Grundschulkindern hin: „Die Resultate der standardisierten Verfahren belegen, dass Sprachentwicklungsstörungen bei etwa der Hälfte der untersuchten Grundschüler vorliegen. Auf Basis der aktuell üblichen amtsärztlichen, sprachfrei ausgelegten Schuleingangstests wird jedoch nur etwa die Hälfte der auffälligen Schüler detektiert.“ (2017, 21).

 

 

Auch Kinder mit sprachlichen Schwierigkeiten egal welcher Genese haben ein Recht auf Teilhabe und angemessene, individuelle und fachkompetente Förderung in der Schule!

Ein paar Ideen dazu – ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • Sprachsensibler Unterricht an allen Schularten und besonders in inklusiven Settings, aber natürlich auch an Förderzentren und Förderschulen
  • Sprachförderangebote besonders in der Primarstufe, aber auch bei Bedarf für Kinder und Jugendliche in höheren Jahrgangsstufen, z.B. auch im Kontext Migration oder Bildungsarmut
  • Nachqualifikation von Lehrkräften hinsichtlich Kompetenzen zum sprachsensiblen Unterricht, zur Sprachdiagnostik, Sprachförderung und zum sprachheilpädagogischem Unterricht
  • Stärkung der grundständigen Ausbildung von Lehrkräften mit Förderschwerpunkt Sprache
  • Verschlankung der Lehrplaninhalte zu Gunsten zentraler Kompetenzen, Schlüsselqualifikationen und fächerübergreifender Bildungsziele
  • Integrierte Förderangebote der Schrift- und Lautsprache in allen Lernbereichen
  • Ausbau der Beratungsangebote im Kontext Sprache

 

Literatur:

Clahsen, H. (1988): Normale und gestörte Kindersprache. John Benjamins Publishing, Amsterdam.

Mayer, A. (2021): Förderbedarf Sprache an Sonderpädagogischen Förderzentren. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90, 206-221.
Mayer, A. (2021a): Ein Plädoyer für die Bedeutung der Sprachheilpädagogik in schulischen Kontexten. Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 90, 41-54.
Mayer, A. Schramm, C., Ulrich, T. (eingereicht): Sprachliche Beeinträchtigungen bei Kindern mit Gefühls- und Verhaltensstörungen. Empirische Sonderpädagogik.
Mayer, A. (2023): Die Bedeutung des Förderschwerpunkts Sprache am Sonderpädagogischen Förderzentrum (unveröffentlichter Vortrag im Rahmen der Frühjahrstagung der dgs LG Bayern).
Tiede, S./Braun, J.-U. (2017): Ist Chancengerechtigkeit für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen Realität? Eine empirische Querschnittstudie zur Quantifizierung des Bedarfs sprachtherapeutischer Interventionen im Primarbereich. In: Forschung Sprache 1, 21-37, https://www.forschung-sprache.eu/fileadmin/user_upload/Dateien/Heftausgaben/2017-1/forschungSprache_Tiede.pdf

 

Testverfahren:

Fox-Boyer, A. V. (2023): TROG-D. Test zur Überprüfung des Grammatikverständnisses. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein.

Glück, Ch. (2011): WWT 6–10. Wortschatz- und Wortfindungstest für 6- bis 10-Jährige. Elsevier, München.

Motsch, H.-J./Rietz, Ch. (2019): ESGRAF 4–8. Grammatiktest für 4- bis 8-jährige Kinder. Reinhardt Verlag, München.